A. Nassehi: Wie weiter mit Niklas Luhmann? Eine Buchrezension.

Hamburger Edition HIS. 2008. 39 Seiten

Es ist Sommer. Da muss nicht immer alles effi­zi­ent und direkt pro­duk­tiv ver­wert­bar sein. Es ist die rich­ti­ge Zeit, dem Geist etwas Nahrung zu ver­schaf­fen. Dazu pas­sen Denkanstöße, die lang­sam ver­ar­bei­tet wer­den kön­nen. Mäandernde Gedanken, die erst nach und nach kon­kre­ter und irgend­wann dann auch anwend­bar wer­den. Dazu emp­feh­le ich Armin Nassehi Büchlein „Wie wei­ter mit Niklas Luhmann?“ und begin­ne gleich mit dem, was der kur­ze Text (nicht mal 40 Seiten) nicht ist. Er ist

  • nicht neu und tages­ak­tu­ell, son­dern von 2008,
  • kei­ne leich­te Urlaubslektüre,
  • nicht direkt in der Praxis anwend­bar und
  • nur mit eini­gen Vorkenntnisse der Luhmann’schen Systemtheorie mit Freuden genießbar.

In einer Zeit, in der wir ange­hal­ten sind, stets in Lösungen zu den­ken — „sagen Sie mir nicht, was nicht geht, son­dern sagen sie, was geht“ — und posi­tiv zu for­mu­lie­ren, ist es ein Vergnügen, mit Negationen zu  begin­nen. Für sys­te­mi­sche Organisationsberater*innen wird es aber schnell span­nend. Denn schon zu Beginn steht die Aussage, wenn es mit der Luhmann’schen Systemtheorie wei­ter­ge­hen soll, dann „kann es nur empi­risch wei­ter­ge­hen“. Es gehe dar­um, „das empi­ri­sche Potential sys­tem­theo­re­ti­schen Denkens aus­zu­lo­ten und zu nut­zen“ Eine Aufgabe, der sich sys­te­mi­schen Berater*innen schon immer stell­ten. Musste und muss doch die beschrei­ben­de Theorie stets „wei­ter­ge­dacht“ wer­den, um für die bera­te­ri­sche Praxis sinn­voll zu sein. Bei der Frage, wie aktu­ell Luhmann bezie­hungs­wei­se sei­ne Systemtheorie heu­te noch ist und wie sie wei­ter­ge­dacht wer­den kann, wählt Nassehi eine Form der Fragestellung, die uns aus dem sys­te­mi­schen Beratungsalltag sehr ver­traut ist: „Für wel­ches Problem ist Luhmann eine Lösung?“

Das loh­nens­wer­te an der Lektüre von „Wie wei­ter mit Niklas Luhmann“ sind vier inspi­rie­ren­de Versionen von poten­ti­el­len Antworten, die Ansatzpunkte bie­ten, um wei­ter­zu­den­ken. Vier abs­trak­te Antworten, ange­rei­chert mit anschau­li­chen Praxisbeispielen. Diese hier auf­zu­zäh­len, wäre nicht nur lang­wei­lig, son­dern wür­de auch den Spaß und den A‑Ha-Moment der Lektüre ver­mie­sen. Soviel sei den­noch ver­ra­ten: Mit etwas Nachdenken und Kreativität bie­ten die­se Antworten eine Menge Anknüpfungspunkte für die Beratungspraxis oder die­nen sogar schon als Basis des bera­te­ri­schen Handelns, so wie wir sie verstehen.

Nassehi hat bei sei­nen Ausführungen die Soziologie der Gesellschaft und nicht die Beratung im Blick. Dennoch regt vie­les zu Fragen an, die sich sys­te­mi­sche Berater*innen stel­len könn­ten, um die eige­ne Praxis wei­ter zu ent­wi­ckeln und theo­re­tisch fun­dier­ter zu gestalten. Auch für „Neulinge der Theorie“ gibt es knap­pe, aber plas­ti­sche Darstellungen der Begriffe Kommunikation, Kontingenz oder der Gleichzeitigkeit unter­schied­li­cher Kontexte.

Einige Auszüge aus Nassehi’s Darlegungen, die sich in die Praxis über­tra­gen lassen:

„Luhmann ist die Lösung für das Problem, die Unhintergehbarkeit von Perspektiven beschrei­ben zu können“

„Das Besondere der Systemtheorie scheint mir zu sein, dass sie die Verwobenheit ihrer selbst mit ihrem Gegenstand eben nicht für einen Schönheitsfehler hält, son­dern, um es in ästhe­ti­schen Kategorien aus­zu­drü­cken, für den eigent­li­chen Clou ihrer Schönheit“

„Die neue genera­ti­ons­ty­pi­sche Erfahrung scheint an sich selbst zu erle­ben, dass es kein Entrinnen aus der eige­nen Perspektive, aus der eige­nen Sprecherposition, aus der eige­nen Praxis gibt

„Sehen zu kön­nen, dass Sehen Einschließen und Ausschließen einschließt“

„Es geht hier also expli­zit dar­um, die Frage zu beant­wor­ten, für wel­ches Problem kon­kre­te empi­ri­sche Phänomene eine Lösung dar­stel­len. Der Charme die­ser Denkfigur liegt mei­nes Erachtens in ihrer Einfachheit.“

Diese funk­tio­nal-struk­tu­rel­le Perspektive  das Ausgehen von kon­kre­ten vor­ge­fun­de­nen Gegebenheiten, um dann die Frage zu stel­len, wofür das „Sinn macht“  ist Kern der Diagnose und Beratungspraxis.

Eine etwas ande­re Sommerlektüre.

Marion Schenk, August 2019

Jennifer Hansen

Systemische Organisationsberaterin, Moderatorin, Coach

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A. Nassehi: Wie weiter mit Niklas Luhmann? Eine Buchrezension.

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Supervision, Beratung, Training und Prozessbegleitung, Arbeitsschwerpunkte: Diversity, Gleichstellung und Antidiskriminierung, inclusive leadership

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Was sind Organisationen?

Mit der soziologischen Organisationstheorie von Niklas Luhmann verstehen wir eine Organisation als ein besonderes soziales System, das aus einer Vielzahl von mehr oder weniger strukturierten Kommunikationsprozessen (Besprechungen & Meetings, Brainstorming, Aufträge & Weisungen, Smalltalk, Argumentation & Kritik, Dienstwege und  Zahlungen, Statusgesten etc.) besteht.

Zentral für jede Organisation ist die Entscheidung: Organisationen bestehen weiter, weil Entscheidungen getroffen werden. Mangelnde Entscheidungskompetenz ist daher sowohl ein Thema für Führung als auch für Beratung. Jede Organisation verfolgt auch ein Ziel oder einen Zweck. Führung hat somit auch immer die Frage zu klären, ob und inwieweit Entscheidungen dem Organisationszweck dienen oder nicht.

Jede Organisation ist unterschiedlich, jedoch lassen sich Organisationen in unterschiedliche Typen einteilen, zum Beispiel in primär wirtschaftlich operierende Unternehmen, sozial orientierte NGOs und regel- bzw. normdurchsetzende Behörden und Verwaltungen, aber auch nach Mitgliederanzahl (Kleinunternehmen, Mittelstand, Konzern) oder nach Einfluss (politische Macht, Normsetzungskompetenz, Zuschreibung von Expertenwissen). Die Kenntnis der spezifischen Eigenheiten von Organisationstypen ist ein wichtiges Hilfsmittel zur Diagnose von organisationalen Problemen und somit Voraussetzung einer erfolgreichen Beratung.