Unterleuten – das zerrissene Dorf. Eine Filmrezension
Der hochkarätig besetzte Film „Unterleuten“, verfilmt nach einem Buch von Juli Zeh, kann als Inspiration dienen, um das Zusammenwirken von Menschen als Systeme verstehen zu lernen. Auf der Suche nach einer Antwort auf die uns immer wieder gestellten Fragen: Was heißt systemisch Denken? und: Was ist ein System? sowie nach Beispielen für alltägliche Paradoxien ist uns diesmal kein Buch‑, sondern ein Filmtip eingefallen: „Unterleuten – das zerrissene Dorf“ von Matti Geschonneck.
Ähnlich wie im großartigen Film „Chocolat“ mit Juliette Binoche und dem jungen Jonny Depp wird hier ein Dorf vorgestellt und all die Verstrickungen der Dorfbewohner*innen untereinander, die individuellen Geschichten und der Umgang mit Zugezogenen thematisiert. Es wird sehr schön aufzeigt wie und warum Menschen mit Ablehnung, Ignoranz, Spaltung oder Integration in die Dorfgemeinschaft reagieren. Dahinter stecken viele Handlungen, Muster und „Spiele“, die in der Reaktion des Kollektivs als vermeintliche Dorf-„Gemeinschaft“ kulminieren und eben nicht mehr absichtsvoll den Einzelnen zugeschrieben werden können.
Jede und jeder im Dorf hat vermeintlich etwas zu gewinnen und zu verlieren. Macht und Einflusssphären verschieben sich durch zusätzliche Mitspieler*innen. Dieses Brandenburger Dorf steht stellvertretend für viele Systeme, mit offenen und verdeckten Spielregeln, Mustern und Beziehungsgeflechten, die unausgesprochen, aber um so wirkmächtiger sind. Darin liegt sicher ein Grund, warum dieses Portrait so viel Verbreitung findet. Der Wiedererkennungseffekt ist sehr hoch, selbst für diejenigen, die eher aus und in urbanen Spären unterwegs sind.
Da ist der ehemalige Großbauer Gombrowski (Thomas Thieme), der zur Rettung seines landwirtschaftlichen Großbetriebes, einer ehemaligen LPG zu DDR Zeiten, unbedingt die angebotenen Windkraftanlagen im Naturschutzgebiet bauen lassen will. Sein Kontrahent Kron (Hermann Beyer), der ihn „früher“ zu DDR-Zeiten enteignet hat, besitzt das Land, auf dem die Anlagen gebaut werden sollen. Da ist die junge zugezogene Berlinerin Linda Franzen (Miriam Stein) mit ihrem Hippie-Freund, die vom eigenen Pferdeparadies träumt. Professor Fließ (Ulrich Noethen) aus Berlin will endlich das Idyll mit seiner Studentin (Rosalie Thomass) samt gemeinsamem Kind leben und sich für Naturschutz stark machen. Nicht fehlen darf der unliebsame Nachbar Schaller (Charly Hübner), der als eine leicht kriminelle Vergangenheit aufweist und auf seinem Anwesen in der Nachbarschaft von Fließ ein neues Leben beginnt. Da ist die Frau des Bürgermeisters, die früher Ansehen hatte, heute dem Alkohol und Trübsinn verfallen ist und vor Eifersucht auf die Nachbarin zergeht, da diese von jeher ein sehr gutes Verhältnis zu ihrem Mann pflegt. Und nicht zuletzt der amtierende amtsmüde Bürgermeister (Jörg Schüttauf), der versucht, ausgleichend alle Bedürfnisse bei der Entscheidung für die Windräder zu berücksichtigen und grandios scheitert.
Rollen, Stellvertreter*innen, Klischees. Kräfte, die wirken. Ein Betrieb, der am Rande der Existenz steht. Das Angebot einer dubiosen globalen Investorin, Windkraft und damit viel Geld ins Dorf zu bringen. Verträumte, aber engagierte Zugezogene, die nur die Natur zu interessieren scheint und hinter allem die mehr oder weniger bekannten Fehden der Vergangenheit. Ein Mord oder zufälliger Tod bei einem Sturm. Überleben im neuen System nach dem Ende der DDR. Alte Rechnungen und ganz neuer Kampf um Zustimmung. Das Verschwinden eines Kindes. Polnische Erntehelfer, Sabotage und Streik auf dem Betrieb wegen Zahlungsunfähigkeit. Erzwungenes Bebauungsgutachten für den Pferdehof auf dem Naturschutzgebiet. Die Sorge um den Feldhamster und vieles mehr.
Wirklichkeitskonstruktionen und Perspektiven, grandioses Scheitern. Aber das Dorf als System mit seinen unerbittlichen und zugleich Geborgenheit bietenden Regeln besteht fort. Schaut man auf das Dorf als System, stellen sich Fragen:
- Welche Impulse von außen nimmt es überhaupt auf?
- Was können Einzelne tun, um anschlußfähig an das Bestehende zu werden?
- Wie radikal kann die Wirkung von augenscheinlich personenbezogenen Entscheidungen im gesamten System sein?
- Welche scheinbar paradoxen Wendungen gibt es und wie gehen die „Spieler*innen“ damit um?
Für alle, die die Resistenz von Systemen gegen Veränderungen live und in Farbe genussvoll sehen wollen. Der Film „Unterleuten – das zerrissene Dorf“ ist in der ZDF Mediathek zu finden.
Jan Kasiske