Systemrelevanz systemtheoretisch gedacht

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Systemrelevanz. Ein Begriff, der plötz­lich für jeden geläu­fig wur­de. Was bedeu­tet er eigent­lich? Systemrelevant waren in der aktu­el­len Krise im Gegensatz zur Finanzkrise 2008 Berufe und Unternehmen, die für die Daseinsvorsorge oder zur Bekämpfung der COVID-19 Pandemie als wich­tig erach­tet wur­den und ohne die die Gesellschaft nicht funk­tio­nie­ren wür­de. Da waren wir schnell beim Gesundheitsystem, Lebensmittelgeschäften, Stromversorgung u.ä.

Die Frage, die sich für Systemtheoretiker*innen stellt, lautet:

„Welches System ist gemeint, welche Systembeschreibung liegt zugrunde, wenn von Systemrelevanz gesprochen wird?”

  • das Gesellschaftssystem?
  • das Wirtschaftssystem?
  • jedes Funktionssystem für sich genommen?
  • Was ist nötig, damit die Gesellschaft funktioniert?
  • Was ist nötig, damit die Wirtschaft funktioniert?

Je nach zu Grunde geleg­tem Systembegriff defi­niert sich, was als sys­tem­re­le­vant bezeich­net oder erkannt wird. Wenn rele­vant bedeu­tet, zu iden­ti­fi­zie­ren, was „das System“ ori­gi­när auf­recht­erhält, geht es dar­um, die­se Mechanismen zu erkennen.

Welche Handlungen und Aktivitäten (Arbeitsbereiche, Arbeitsleistungen, zen­tra­le Personen, Abläufe…) sind also nötig, um das System in sei­nen Grundfunktionen am Leben zu hal­ten? Bei der Einschätzung, was die Gesellschaft funk­tio­nal am Laufen hält und was essen­ti­ell erscheint (was es wirk­lich ist kön­nen wir nicht ent­schei­den!), muss also immer mit­re­flek­tiert wer­den, aus wel­cher Perspektive die­se Frage beant­wor­tet und wie Gesellschaft hier defi­niert wird.

Beobachtungen

  • Politik schaut auf Gesellschaft
  • Gesellschaft schaut auf das Gesundheitssystem
  • Gesellschaft schaut auf Kultur
  • Wirtschaft schaut auf Wirtschaft

und wer genau beob­ach­tet da? Männer, Frauen, Intellektuelle, Politiker*innen, Betroffene und wenn ja wovon…

Die Verhältnisse der Funktionssysteme zuein­an­der wer­den in den Fokus gerückt und die Verhandlungen dar­über, wer denn nun am wich­tigs­ten und unver­zicht­bars­ten sei.

Wovon ist die Rede, wenn von Gesellschaft gesprochen wird?

Gesellschaft „… may be defi­ned as the total com­plex of human rela­ti­ons­hips in so far as they grow out of action in terms of the means-end rela­ti­ons­hip, intrinsic or symbolic.” (Talcott Parsons 1934)

Mit Niklas Luhmann spricht man von der Paradoxie, … dass Gesellschaft eine unter vie­len Gemeinschaften ist, sie aber zugleich die Gemeinschaft ist, die alle ande­ren Gemeinschaften in sich einschließt …

„Gesellschaft ist die­je­ni­ge Ebene der Systembildung, von der ab es funk­tio­na­le Differenzierung gibt. Oder noch schär­fer: Gesellschaft ist das­je­ni­ge Sozialsystem, das die letz­ter­reich­ba­re Form funk­tio­na­ler Differenzierung institutionalisiert.“ (Niklas Luhmann 1971)

Hier zeigt sich schon, dass die Bezugsgrößen sehr unter­schied­lich aus­ge­legt wer­den können.

Bewertung der Funktionssysteme – Hierarchisierung

Eine Hypothese/Beobachtung der letz­ten Jahrzehnte lau­te­te, dass das „Funktionssystem Wirtschaft“ in den ver­gan­ge­nen Jahrzehnten domi­nan­ter in der Gesellschaft ver­tre­ten war als die ande­ren Funktionssysteme (und damit stär­ke­ren Einfluss auf die ande­ren hat­te als umge­kehrt). Jetzt lässt sich beob­ach­ten (Dirk Baecker auf https://kure.hypotheses.org/839), dass fast alle Funktionssysteme zu Gunsten des medi­zi­ni­schen Systems „her­un­ter­ge­fah­ren“ wur­den, wel­ches wie­der­um „hoch­ge­fah­ren“ wur­de. Medizin und Forschung ins­be­son­de­re die Virologie waren plötz­lich pro­mi­nent und kom­mu­ni­ka­tiv extrem präsent.

„In der Auseinandersetzung mit dem Corona-Virus legt sich die Gesellschaft daher nicht still, son­dern sie stei­gert die Frequenz von Ereignissen mit einer Referenz auf das Gesundheitssystem, unter­stützt von der Politik und den Massenmedien, und sie redu­ziert die Frequenz ande­rer Ereignisse, etwa wirt­schaft­li­cher, erzie­he­ri­scher und künst­le­ri­scher Art.“ (Dirk Baecker April 2020)

Diskussionen um Rangfolgen

  • Was ist bedeut­sa­mer / wich­ti­ger? Kultur, Sport, Pädagogik, ein­zel­ne Gruppen: Kinder / Alte…?
  • Was / wer ist in den ein­zel­nen Systemen bedeut­sa­mer? Blue Collar / White Collar, Wertschöpfung, HR…?

Systemrelevanz wur­de zum zen­tra­len Thema und Unterscheidungskriterium, ohne den Begriff zu defi­nie­ren oder den Beobachtungsstandpunkt, von dem aus die Festlegung erfolg­te (der Bobachter / die Beobachterin defi­niert die Welt). Die Politik ent­schei­det im ers­ten Schritt schein­bar über Systemrelevanz. Die „Gesellschaft“ wirkt wie­der­um auf das poli­ti­sche System ein und bewirkt eine Veränderung der „Definition Systemrelevanz“. Verschiedene Subsysteme ver­han­deln nun über die Definition.
Die Leitdifferenz „sys­tem­re­le­vant / nicht-sys­tem­re­le­vant“ wird grund­le­gen­de Entscheidungsprämisse.

Systemrelevanz ist eine Bewerungskategorie

Systemrelevant zu sein oder nicht hat exis­ten­zi­el­le Auswirkungen, orga­ni­sa­tio­nal und psy­chisch. Das wirkt sich auf die Selbstbeschreibung und Fremdbeschreibung der Systeme und deren Mitglieder aus. Wie „fühlt“ man sich, wenn man nicht rele­vant ist? Hat die­se „Sortierung“ lang- fris­ti­ge Wirkungen? Da Systeme letzt­lich robust sind, ist Skepsis ange­sagt. Wenn die Irritation / Störung wie­der weg ist, fal­len die meis­ten Systeme (Organisationen, Personen ) in alte Zustände und Selbstbeschreibungen zurück, im Guten wie im Schlechten.

Marion Schenk