J. March: Zwei Seiten der Erfahrung. Eine Buchrezension

Carl-Auer. 2016. 128 Seiten.

„Es steht außer Frage, dass Organisationen und Individuen regel­mä­ßig und rou­ti­ne­mä­ßig in dem Sinne aus Erfahrung ler­nen, dass sie ihr Verhalten und ihre Wahrnehmung auf Grundlage von Erfahrungen ver­än­dern. Weniger offen­sicht­lich ist, ob die der­art bereit­wil­lig durch Erfahrung gelern­ten Lektionen die Leistungen oder die Überlebenswahrscheinlichkeit zuver­läs­sig verbessern.“

Zwei Seiten der Erfahrung ist eine lesens­wer­te, wenn auch kei­ne ein­fa­che Lektüre. Der US-ame­ri­ka­ni­sche Management-Professor James March beschäf­tigt sich damit, wie Organisationen ler­nen und wel­chen Beitrag Erfahrung dabei leis­ten kann. Charmant ist hier­bei die Erkenntnis, dass Erfahrung eben nicht immer klug, son­dern manch­mal auch düm­mer macht.

March gibt kei­ne ein­fa­chen Antworten, eigent­lich gar kei­ne. Das fin­de ich beson­ders lesens­wert in einer Zeit, in der wir per­ma­nent von kom­ple­xer wer­den­den Welten spre­chen und sich gleich­zei­tig sim­pli­fi­zie­ren­de und all­ge­mein gül­ti­ge Managementtools und Methoden bes­tens ver­kau­fen. Er stellt Fragen, regt zum Denken an und zieht die „Heils-Versprechen“ gera­de auch von Praktikern*innen und Berater*innen in Zweifel. 

So schreibt er über unse­re Begeisterung des Lernens aus klei­nen Stichproben oder gar einer Stichprobengröße von N=1, also der Liebe zu Erfolgsstories oder Fallbeispielen. Kaum ein Unternehmen, das sich nicht umschaut nach „Best-prac­ti­ce-Beispielen“ und von die­sen ler­nen will. Was nicht beach­tet wird: Die Stichprobe ist zu klein, die Variablen oft unkon­trol­lier­bar, alles ist viel­sei­tig inter­pre­tier­bar – und den­noch wol­len wir von ein­zel­nen Sieger*innen ler­nen. Zufall wird unter‑, Intentionalität und Rationalität wer­den über­schätzt. Weil die Geschichten doch zu schön sind.

Wir sind oft „pra­xis­ver­liebt“ alles muss ver­wert­bar und über­trag­bar sein, dabei ist meis­tens der ver­meint­li­che Umweg über Theorie nötig, um Praxis sinn­voll zu begrei­fen. Die Tendenz, Komplexität zu redu­zie­ren, damit sie uns hand­hab­ba­rer erscheint, ist ver­füh­re­risch, aber nicht sinn­voll. Gute Beratung soll­te es sich zur Aufgabe machen, Unternehmen bei einer dif­fe­ren­zier­ten Selbstbeschreibung zu unter­stüt­zen. Sie soll­te Komplexität und Paradoxie aner­ken­nen und bei Entscheidern und Management die Kompetenzen aus­bil­den, die­se aus­zu­hal­ten und damit umzugehen.

Das alles ver­spricht natür­lich erst mal kei­ne hohen Verkaufszahlen und kei­nen Platz auf Bestsellerlisten mit den Titeln: „10 Regeln für ein erfolg­rei­ches Unternehmen“ oder „Von Siegern ler­nen“. Aber es wür­de im Marchschen Sinne dazu bei­tra­gen, dass Organisationen – und viel­leicht sogar die Welt – etwas intel­li­gen­ter werden.

Marion Schenk