S. Kühl und J. Muster: Organisationen gestalten. Eine Buchrezension.
Springer VS. 2016. 71 Seiten
„Organisationen verändern sich ständig und häufig, aber in der Regel nicht so, wie es die Beteiligten wollen.“
Um dennoch ein wenig Orientierung zu behalten und zu bekommen, empfehle ich das neue Buch „Organisationen gestalten“ von Stefan Kühl und Judith Muster. Ich finde es aus drei Gründen interessant:
- In kurzer Form führt es die drei spezifischen Merkmale von Organisationen ein, wie Sie in Niklas Luhmanns Buch „Organisation und Entscheidung“ zu finden sind: Mitgliedschaft, Zweck und Hierarchie. Perfektes Basiswissen für alle, die Organisationen systemtheoretisch verstehen möchten. Sei es als Grundlage für eigenes Führungshandeln, zur „Diagnose“ oder zur Gestaltung von Veränderungsprozessen.
- Es zeigt die Verführungen und Irrwege zweckrationalen Denkens im Umgang mit Organisationen und weist immer wieder darauf hin, wie leicht auch Berater*innen trotz systemischer Ausrichtung sich zweckrational verstricken.
- Es bietet ganz ohne Patentrezepte und Blaupausen praktische Ansatzpunkte, wie Organisationsveränderungen durch den Fokus auf Latenzen (durch die Bildung von Strukturen entstandene Blinde Flecke) in der Organisation sinnvoll angegangen werden können.
Ein nicht mehr ganz neues Buch, das fast in die Hosentasche passt und dennoch eine Menge praktischer Theorie liefert, um Organisationen zu verstehen und Veränderungsprozesse sinnvoll anzugehen. Ein wenig Konzentration und Fokussierung braucht es schon, um diese Handreichung nutzen zu können. Aber schon in der Einleitung hat mir die explizite Aussage gefallen, dass man Manager*innen und Berater* innen nicht unterfordern wolle. So schreiben Kühl und Muster zu Beginn:
„Wir halten nichts davon, Texte für Manager und Berater mit Bullet Points, Executive Summaries, grafischen Darstellung des Textflusses oder gar mit Übungsaufgaben zu ‚vereinfachen‘“
Ich teile die Ansicht, dass intellektuelle Unterforderung von Entscheider*innen in komplexen Märkten und Welten nicht gerade sinnvoll erscheinen. Das Buch lädt dazu ein, kritisch über zweckrationales Denken nachzudenken. Es sieht — um das Ende vorwegzunehmen — das Management als „Dilemmaentfaltungsinstanz“. Da gibt es keine eindeutigen und trivialen Lösungen. Eine mögliche „Funktion“ zweckrationalen Denkens in Unternehmen: Das Organisieren und Gestalten in Organisationen scheint berechenbar und angstfreier zu bewältigen. Das ist keine neue Erkenntnis, aber hier noch einmal prägnant zusammengefasst:
- Zweckrationalität beim Top-Management bedeutet „ich habe einen Plan“ und führt zu Angstreduktion.
- Gegenüber den Mitarbeitenden heißt das dann: „Macht euch keine Sorgen, wir — das Management — haben einen Plan“
- Die Berater*innen versprechen dem Top-Management: „Macht euch keine Sogen, wir haben einen Plan (Expertenberatung) oder wir machen gemeinsam einen Plan (Organisationsberatung)“
Bei der Arbeit mit und in Firmen unterliegen wir immer wieder der zweckrationalen Illusion. Wir zeichnen Zukunftsbilder und Visionen, die vermeintlich weniger „irrational“ sind als die gegenwärtigen Zustände in der Organisation. Dabei wird suggeriert, der Prozess dahin könnte gestaltet und dieser „rationalere“ Zustand der Organisation könne erreicht werden. Kühl und Muster nennen das Ästhetisierung der Organisationszukünfte.
Welches Top-Management möchte schon für die Begleitung eines Prozesses bezahlen, der von einem nicht-rationalen, widersprüchlichen Zustand in einen anderen nicht-rationalen mit Dilemmata behafteten Zustand führt?
„Im Verlauf solcher zweckrational geplanter Veränderungsprojekte wird schnell deutlich, wie sich die Idee oder Strategie abnutzt und an Attraktivität verliert. Je konkreter ein Masterplan in die Realität umgesetzt wird, desto deutlicher wird, dass dieses Konzept ähnliche Widersprüchlichkeiten birgt, wie alle anderen vorher bekannten Organisationskonzepte auch.“
Dabei ist es gut, sich wieder daran zu erinnern: Wenn wir Organisationen als Systeme verstehen, dann sind diese von Paradoxien gekennzeichnet. Das heißt aber auch, dass das System nach einem Veränderungsprozess erneut Widersprüche und Paradoxien enthält. Veränderungspläne und die beschriebene Zukunft sehen vielleicht gut aus, je mehr sie umgesetzt werden, desto sichtbarer werden die Lücken und Widersprüche. Das ästhetische Zielbild verliert an Glanz, der Lack blättert ab, Enttäuschung ist vorprogrammiert und wird dann „Widerstand gegen Veränderung“ genannt.
Gibt es ausser Kritik an der herrschenden Praxis auch Hilfreiches für die Zukunft? Die Einladung besteht darin, die Latenzen der Organisation in den Blick zu nehmen, Beobachtungs-Latenzen und Blinde Flecken in den Fokus zu rücken. Was kann nicht gesehen werden? Was kann nicht angesprochen werden, weil es keine Kommunikationsroutine dafür gibt oder weil es nicht opportun ist, das zu tun? Hilfreiche Fragen, die sich anschließen und an den Entscheidungsprämissen von Organisationen ansetzen:
- Lassen sich Programme ändern, wenn ja welche?
- Lassen sich Kommunikationswege ändern? Wenn ja wie?
- Wo ist es möglich Einstellungen, Versetzungen, Entlassungen möglich zu machen, die dazu führen, dass der Typus von Entscheidungen verändert wird?
Dort zeigen sich mobile oder immobile Strukturmerkmale und bieten Stellschrauben, an denenangesetzt werden kann.
Und es findet sich noch ein Plädoyer für etwas mehr Gelassenheit und gegen einen falsch verstandenen „ganzheitlichen Gestaltungsanspruch“:
„Niklas Luhmann spricht davon, dass es nur ein einziges unausweichliches „Organisationsgesetz“ gibt: Es kann in einer Organisation nicht alles gleichzeitig verändert werden! Die Organisation würde sich völlig übernehmen, wenn sie versuchen würde, an allen Stellschrauben gleichzeitig zu drehen. Sie würde Gefahr laufen, sich kaum wiederzukennen und angesichts dieser Gefahr vermutlich in eine Schockstarre verfallen.“
Fazit: Ein kleines und feines Buch, gehaltvoll und portionsweise zu genießen.
Marion Schenk, September 2018