Ambiguitätstoleranz als Führungskompetenz

Was Führung braucht

Eine der wich­tigs­ten Fähigkeiten einer Führungskraft ist eine hohe Ambiguitätstoleranz. Wer mich kennt, weiß, dass dies einer mei­ner liebs­ten Begriffe ist. Im Psychologischen Wörterbuch Dorsch fin­det sich dazu die Definition:

„Ambiguitätstoleranz ist die Fähigkeit, ande­re Meinungen und Sichtweisen zu akzep­tie­ren, sowie Mehrdeutigkeiten und Widersprüche in Situationen und Handlungsweisen zu ertra­gen, ohne sich unwohl zu füh­len oder aggres­siv zu reagieren.”

Nun habe ich ein wun­der­ba­res klei­nes Buch gefun­den von Thomas Bauer einem Soziologen, der sich dem Verschwinden der Vieldeutigkeit wid­met. Bauer beschreibt den Verlust der Vieldeutigkeit in allen mög­li­chen Berichten. Von der Artenvielfalt bei Gemüse, Bienen und Obst über den Verlust der Vieldeutigkeit in der Kunst, Religion, Gesellschaft all­ge­mein. Zwar wid­met er sich nicht expli­zit dem Thema im Kontext von Unternehmen und Führung, aber die Verbindung sei hier erlaubt. Wenn es sich um ein gesamt­ge­sell­schaft­li­ches Phänomen han­delt, war­um soll­te die Führungselite davon ver­schont bleiben?

Der Wunsch nach rich­ti­gen Lösungen, Eindeutigkeit, die Jagd nach Best-Practice-Beispielen und drei gol­de­nen Regeln sind ja gera­de­zu ein Sinnbild der Suche nach Eindeutigkeit, hier im Sinne von Sicherheit. Sicherheit in Entscheidungen heißt, Ambiguität aus­schlie­ßen, Zweifel ver­ban­nen, die Komplexität der Welt reduzieren.

Zweifelnde Führungskräfte pas­sen nicht so recht zu unse­rer Vorstellung von erfolg­rei­cher Führung. Aber gera­de die Fähigkeit, Ungewissheit und schein­bar wider­spre­chen­de Anforderungen aus­zu­hal­ten, nicht aus­zu­blen­den, sind not­wen­dig, um die nicht ein­deu­ti­ge wirt­schaft­li­che Welt zu begreifen.

Wann immer wir eine Entscheidung tref­fen, gab es vor­her meh­re­re Möglichkeiten.

Nie ist eine Entscheidung alternativlos.

Entscheidungen tref­fen bedeu­tet Entambiguisierung. Jede Entscheidung schafft die Welt, aus der her­aus wir im Anschluss die Sinnhaftigkeit der vor­her getrof­fe­nen Entscheidung beur­tei­len (sie­he dazu auch Niklas Luhmann: Organisation und Entscheidung).

Thomas Bauer schreibt, dass alles unein­deu­ti­ge an Bedeutung ver­liert, wenn die Ambiguitätstoleranz schwin­det. Das ist viel­leicht mit ein Grund für das Desinteresse an sys­te­mi­schen Theorien und Ansätzen in der Praxis der Wirtschaft. Herrscht doch dort – wider bes­se­ren Wissens – oft der Anspruch an Klarheit und Eindeutigkeit. Das bie­ten die­se Denkansätze nicht, für „Ambiguitätsintolerante“ Grund genug sie nicht zu beach­ten. Er geht noch wei­ter und nennt, neben der Gleichgültigkeit und Bedeutungslosigkeit, den Fundamentalismus als zwei­te Seite der Ambiguitätsintoleranz. Der sich in der Ausprägung des Wahrheitswahns mani­fes­tiert. Auch das kommt bekannt vor: die Verwechslung der eige­nen Meinung mit der Wahrheit, die legi­ti­mie­rend wirkt und ver­ehrt und gepre­digt wer­den muss.

Ambiguität aus­hal­ten zu kön­nen, bedeu­tet, ein sinn­vol­les Maß zwi­schen Beliebigkeit und Eindeutigkeit zu errei­chen. Einer Fragestellung, der wir auch mit sys­te­mi­scher Sichtweise begeg­nen kön­nen. Systeme sind dazu da, Kontingenz – „alles ist mög­lich“ – zu begren­zen und den­noch bedeu­tet das Verstehen von Systemen auch, immer damit zu rech­nen, dass eben Nichts ein­deu­tig fest­ge­legt ist. Es kann auch ande­res ent­ste­hen und gesche­hen. Organisation als System ver­ste­hen, heißt, mit Ambiguität umge­hen zu kön­nen und wollen.

Ein wei­te­res Kapitel wid­met Bauer dem Authentizitätswahn unse­rer Zeit. Auch hier der Wunsch ganz ICH zu sein – ein­deu­tig. „Das inne­re unge­fil­tert nach außen stül­pen“, schreibt er. Und mit Recht zieht er den Schluss, dass so etwas das Ende jeder Kultur wäre. Der authen­ti­sche Mensch ist das Gegenteil des kul­ti­vier­ten Menschen, der in ver­schie­de­nen Rollen unter­wegs ist, in ver­schie­de­nen Situationen unter­schied­lich agiert, sich eben rol­len­ge­recht verhält.
Ausschließliches Streben nach Authentizität, der Erfüllung authen­ti­scher Bedürfnisse bedeu­tet für ihn neben der Kulturlosigkeit auch das Ende der Höflichkeit. Geht damit dann nicht auch die Grundlage für kon­struk­ti­ve Auseinandersetzungen verloren?

„Eindeutigkeit und Authentizität sind nur schein­bar Widersprüche. Es sind nur zwei Seiten der­sel­ben Medaille. Raum für Vieldeutigkeit bie­tet kei­ner der bei­den Ansätze.“

Bauer fokus­siert die Verbindung zur Demokratie, ich schaue zur Führung:
Authentizität und Demokratie gehen nicht zusam­men schreibt er. Demokratische Politiker kön­nen nicht authen­tisch sein. Demokratie braucht zwin­gend Ambiguitätstoleranz, da es immer meh­re­re denk­ba­re Lösungen gibt. Ich wür­de im Organisationskontext sagen, Führung braucht rol­len­ge­rech­tes Verhalten, das Denken, dass es stets meh­re­re Lösungen gibt, und das Aushalten von Vieldeutigkeit, ohne in Unsicherheit und Tatenlosigkeit zu versinken.

Und das in einer Welt, die so kom­plex ist, dass es kei­ne ein­fa­chen Lösungen gibt. Die Sehnsucht nach Eindeutigkeit ist ver­ständ­lich, ihr nach­zu­kom­men wäre fatal.

Literatur:

Dorsch: Psychologisches Wörterbuch. 2004
Thomas Bauer: Die Vereindeutigung der Welt. Über den Verlust an Mehrdeutigkeit und Vielfalt. 2018
Niklas Luhmann: Organisation und Entscheidung. 2011