Gleichbehandlung und Gerechtigkeit: Was Führung in diesem Spannungsfeld leisten kann
Ein Vortrag von Marion Schenk
Inhalt
Mein Name ist Marion Schenk, ich arbeite beim SIFB in Berlin, einer Beratungsfirma und einem Weiterbildungsinstitut. Seit über zwanzig Jahren begleite ich Organisationen und Führungskräfte in Veränderungsprozessen, bei Strategieentwicklungen und in Konfliktsituationen – quer durch viele Branchen. Mein Hintergrund ist die Systemtheorie.
Die Frage nach Gleichbehandlung und Gerechtigkeit begegnet mir in dieser Arbeit immer wieder – in sehr unterschiedlichen Gewändern. Mal, wenn es um Teamkonflikte geht. Mal, wenn Führungskräfte im Coaching Rat suchen. Oder dann, wenn das Thema Wertschätzung in Organisationen besonders virulent ist. Vielleicht kennen Sie das: oft steckt die Frage der Gerechtigkeit mit darin. Und nicht zuletzt gibt es ja auch die Hypothese, dass erlebte Ungerechtigkeit und Ohnmacht krank machen können.
Auch gesellschaftlich ist das Thema hochrelevant. Erst kürzlich habe ich die neue Studie von Julian Nida-Rümelin gelesen: „Mythen über Gerechtigkeit“. Sie zeigt, wie stark Gerechtigkeitsfragen unseren Alltag durchziehen – und natürlich auch unseren Arbeitsalltag.
Gleichbehandlung und Gerechtigkeit – ein Spannungsfeld
Viele Mitarbeitende haben den Anspruch: Sie wollen gerecht behandelt werden und zugleich wünschen sie sich Gleichbehandlung. Doch passt das wirklich zusammen? Oft nicht. Denn was als gerecht empfunden wird, unterscheidet sich von Mensch zu Mensch.
Der Vortrag, auf dem dieser Artikel beruht, zeigt systemtheoretische Perspektiven auf dieses Spannungsfeld und fragt: Was kann Führung hier leisten? Und wo liegen die Grenzen?
Organisationen als soziale Systeme
Zur Einordnung nutze ich die Systemtheorie. Sie bietet einen Blick auf Organisationen, der über eine rein betriebswirtschaftliche Sicht hinausgeht. Organisationen sind soziale Systeme. Sie erklären sich nicht allein durch Strukturen und Prozesse, sondern auch durch Spielregeln, Muster und Kultur – also das soziale Miteinander.
In Organisationen ist es vor allem die Führung, die moderiert, zusammenhält und Erwartungen steuert. Systemtheoretisch etwas provokant formuliert: Führung findet in selbststeuernden Systemen statt und trägt Verantwortung für die Selbststeuerung des Systems. Organisationen sind Ko-Produktionen – deshalb nennen wir sie soziale Systeme.
Konstruktion von Wirklichkeit
Was wir als gerecht oder ungerecht empfinden, ist nie objektiv. Es ist immer abhängig vom Blickwinkel, von Eigeninteressen, von unserer Biografie. Unsere Maßstäbe sind sozial konstruiert.
Und genau deshalb ist es so schwierig: Je diverser Teams sind, desto stärker unterscheiden sich die Wahrnehmungen. Manche wünschen klare Ansagen, andere wollen Mitbestimmung. Einige fordern Flexibilität für Familienaufgaben, andere möchten ungestörte Routinen. Was ist da noch „gleich“? Was ist gerecht?
Wenn diese Fragen nicht im Arbeitskontext verhandelt werden, entstehen Frust, Unsicherheit, Demotivation – im schlimmsten Fall Ohnmacht und Krankheit.
Gleichbehandlung in der Rolle
Im Arbeitskontext kann Gleichbehandlung sich sinnvollerweise nur auf Rollen beziehen. Eine Rolle ist ein stabiles Bündel an Erwartungen, das unabhängig davon gilt, wer die Rolle gerade ausfüllt. So bleibt die Anforderung an eine Position gleich, egal ob sie von einer jungen Mutter oder einem älteren Mann besetzt wird.
Rollen geben Schutz: für die Organisation, weil sie Erwartungen stabilisieren, und für die Einzelnen, weil sie Transparenz schaffen. Doch im Alltag reicht das nicht aus. Rollenanforderungen ergeben sich nicht nur aus Stellenbeschreibungen, sondern auch aus übergeordneten Zielen und informellen Regeln – also aus Teamkultur, Klima und unausgesprochenen Erwartungen. Führungskräfte bewegen sich damit in einem Spannungsfeld von formalen, informellen und persönlichen Ansprüchen.
Ist Gleichbehandlung gerecht?
Hier zeigt sich ein Dilemma: Wenn alle gleich behandelt werden, empfinden manche das als ungerecht. Umgekehrt: Wenn Unterschiede berücksichtigt werden, fühlen sich andere benachteiligt.
Ob Gleichbehandlung als gerecht erlebt wird, hängt stark von der Organisationskultur ab. In einer Kita gelten andere Maßstäbe als in einem Industriebetrieb, im Start-up andere als im Konzern. Und es hängt vom Team ab: Bei beliebten Kolleginnen werden Sonderbehandlungen leichter akzeptiert als bei sperrigen.
Der Vorwurf „Ungerechtigkeit!“ kann vieles sein: ein Hilferuf, ein moralischer Appell, manchmal auch ein Kampfbegriff, um Eigeninteressen durchzusetzen. Doch eines bleibt: Erlebte Ungerechtigkeit macht etwas mit den Menschen. Sie erzeugt Stress, schlechte Stimmung und Frustration.
Führung im Spannungsfeld
Führungskräfte stehen mitten in diesen Aushandlungen. Alle Erwartungen laufen bei ihnen zusammen: die der Organisation und die der Mitarbeitenden.
Gute Führung bedeutet hier nicht, alles zu wissen oder alle zufriedenzustellen. Sondern Erwartungen zu koordinieren – und dabei die Überlebensfähigkeit des Systems im Blick zu behalten.
Systemtheoretisch betrachtet erfüllt Führung drei zentrale Aufgaben:
- Sie wird notwendig, wenn Entscheidungen getroffen werden müssen, die eigentlich unentscheidbar sind.
- Sie vermittelt Orientierung und Sicherheit, gerade in Veränderungsprozessen.
- Sie managt Erwartungen – und damit das Erleben von Fairness.
Führung ist also nicht Harmonie, sondern Erwartungsmanagement.
Mikropolitik und Macht
Organisationen bestehen nicht nur aus Strukturen, sondern auch aus einem „Innenleben“: Mikropolitik, Machtspiele, informelle Regeln. Hier werden Zugehörigkeiten ausgehandelt, Koalitionen gebildet, Einfluss genommen. Führung findet in diesem Kosmos „unter Zeugen“ statt – jede Handlung wird von Dritten beobachtet und bewertet.
Macht gehört unweigerlich dazu. Sie ist nicht gut oder schlecht, sondern eine Einflussstrategie, die Prozesse beschleunigt und Komplexität reduziert. Wer sich jedoch ohnmächtig fühlt, erlebt Ungerechtigkeit – und das wirkt hochgradig demotivierend und krankmachend.
Daraus ergeben sich zwei Fragen an Führung:
- Gehe ich verantwortungsvoll mit meiner Macht um?
- Bin ich für meine Mitarbeitenden berechenbar?
Erwartungen steuern – durch Kommunikation
Führung gelingt, wenn sie klare Erwartungsrahmen setzt und ihre Maßstäbe transparent macht. Dazu gehört auch: deutlich machen, was passiert, wenn Erwartungen nicht erfüllt werden.
Das erfordert Kommunikation – viel Kommunikation. Räume und Zeit, in denen Erwartungen ausgesprochen, geklärt und korrigiert werden können.
Grenzen der Führung
Mit dem wachsenden Anspruch auf Individualität und Selbstverwirklichung stoßen Organisationen auch an Grenzen. Es ist schlicht nicht möglich, allen gerecht zu werden. Mitarbeitende müssen auch bereit sein, sich an die Organisation und ihre Ziele anzupassen.
Eine gerechte Organisation kann nicht alle individuellen Bedürfnisse erfüllen. Wichtig ist aber, diese Grenzen klar zu benennen. Sonst entstehen Enttäuschungen – und die sind es, die krank und unzufrieden machen.
Fazit
Gerechtigkeit in Organisationen ist keine objektive Tatsache. Sie ist das Ergebnis sozialer Aushandlungen. Führung gestaltet diese Aushandlungen – bewusst oder unbewusst.
- Nicht die normative Gleichbehandlung entscheidet über Gerechtigkeit, sondern die Art, wie Kultur und Zusammenarbeit gestaltet werden.
- Führung heißt, Erwartungen zu steuern – nicht sie zu erfüllen.
- In komplexen Zeiten braucht Führung Ambiguitätstoleranz: die Fähigkeit, mit Widersprüchen umzugehen, statt sie auflösen zu wollen.
Führung muss man wollen. Sie bedeutet, Spannungen auszuhalten, Klarheit zu schaffen und berechenbar zu bleiben. Und genau darin liegt ihr Beitrag zu Gerechtigkeit und Gleichbehandlung im Arbeitsalltag.